Marilù: Ein Gesicht und eine Seele

Alles ist mit einem Male weggewischt. Die 1.300 Kilometer im Nachtbus und weitere 70 mit dem Jeep auf einer Strecke, die mit dem Wort „Schlaglochpiste“ geradezu euphemistisch beschrieben werden würde, sind plötzlich weit weg. Ruhe legt sich behutsam über das Dorf, der Wind raschelt in den Bäumen und vom Nachbargrundstück dringt vereinzelt Kinderlachen herüber. Ich warte.

KEIN GESPRÄCH STÖRT DIE STILLE

Eine kleine Katze hat es sich am warmen Wasserkessel bequem gemacht, die Kalabasse ist mit Mate gefüllt, es kann losgehen. Kein Gespräch stört die Stille, dabei hätten wir uns doch so viel zu sagen. Warum ich hier bin, warum wir hier sind, warum wir wieder fahren müssen. Später, irgendwann. Hin und wieder stottert die Bombilla, der Metallstrohhalm, wenn er wieder nicht genügend Wasser mehr zum Ansaugen hat. Der wohltuend herbe Geschmack macht sich in meinem Mund breit und wärmt den Bauch. Reihum geht der Mate, von einer zur nächsten Hand und mit ihm die immer gleichen Abläufe. Heißes Wasser wird fast bis zum Rand aufgefüllt, der Mate geschlürft, dann wieder zurückgegeben, aufgefüllt und an die nächste Person weitergereicht. Unten liegt die Katze weiter in Reichweite des wärmenden Feuers und räkelt sich. Es ist ein wenig frisch geworden.

Doña Marilù ist die eigentliche Chefin, das natürliche Oberhaupt von Manga Bajada hier im argentinischen Nirgendwo in der Provinz Santiago del Estero. Weit über 70, vielleicht auch weit über 80, so genau weiß das hier niemand. Und es ist auch egal. Wer mit dieser Frau einmal Mate trinken und in ihre wachen Augen blicken durfte, der weiß, dass sie eine wahre Magierin ist. Nur mit ihren Blicken kann sie dich wärmen, dich auf den Arm nehmen, dich beruhigen, dir Trost spenden. Sie hat hier ausgehalten in einer Gegend, die lebensfeindlicher kaum sein könnte. Arsen verseuchter Fluss, karger Boden, auf dem so wenig gedeihen will, dafür Heimat von jenen Käfern, die an die Verbliebenen regelmäßig die Chagas-Krankheit verteilen. Männer sucht man vergeblich. Alle ausgezogen, um sich als Tagelöhner und Erntehelfer zu verdingen. Nur so kann die kleine Gemeinschaft hier überhaupt überleben.

ZUFRIEDENE SEELE

Ich sitze noch immer auf dem Klappstuhl und lausche dem Wind. Marilù schlürft den Mate und bei jedem kleinen Zug scheint ihre innere Zufriedenheit größer zu werden. Die Augen sollen ein Spiegelbild der Seele sein, sagt man. Aber selbst wenn Marilù ihre Augen gar nicht mehr öffnen würde, jede Furche in ihrem Gesicht erzählt eine ganz eigene Geschichte. Die von jungen Liebenden und unbeschwertem Glück genauso wie jene voll von Entbehrungen und Leid, von unerfüllten Wünschen und unbändiger Freude. Es sind so viele mit so unterschiedlichen Gefühlswelten und doch halten sie sich alle irgendwie die Waage. Klebstoff des Lebens, bisweilen scheint er sogar gerecht verteilt zu sein.

Marilú erhebt sich langsam aus ihrem Stuhl und geht zu ihrer Hütte. Ehe sie hinter dem Vorhang verschwindet, dreht sie sich noch einmal um und blickt mich mit ihren funkelnden blaugrünen Augen an. „Heute Abend gibt’s Ziegenbock“.

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1 Kommentar

  1. Robert

    Ich war ja auch schon mal im Norden Argentinas unterwegs, aber nie in Manga Bajada. Was hast Du denn da gemacht außer das Ortsoberhaupt zu treffen?! Zugegebenermaßen ist die aber ziemlich fotogen 🙂